Warum wir Claus Weselsky dankbar sein sollten

Die Bahnstreiks könnten dafür sorgen, dass die Züge in Deutschland wieder pünktlicher werden.

Wer auf die Bahn angewiesen ist, bekommt verständlicherweise schlechte Laune, wenn sie nicht fährt. Genau so war es auch am 15. und 16. November, als die Mitglieder der Lokführergewerkschaft GDL in den Warnstreik getreten sind: Auf den verwaisten Bahnsteigen wurde auf Gewerkschafts-Chef Claus Weselsky geschimpft und darüber, dass die GDL auf dem Rücken der Fahrgäste ihren Tarifstreit mit der Bahn austrage. Allerdings, und das fragt an dieser Stelle eine Bahnfahrerin, die selbst vom Warnstreik betroffen war: Warum eigentlich wird fast schon reflexhaft immer so laut gemotzt, wenn die GDL streikt? Fallen nicht sowieso permanent Züge aus oder kommen so verspätet, dass man garantiert seinen nächsten Anschlusszug verpasst? Hat man nicht mittlerweile für dringende Termine immer schon einen Plan B in der Tasche, weil es in Deutschland leider normal geworden ist, sich nicht auf die Bahn verlassen zu können? Was machen da noch zwei weitere Tage aus, an denen so gut wie kein Zug mehr fährt? Immerhin, und anders als bei den normalen Verspätungen und Ausfällen, war der Warnstreik ja wenigstens angekündigt!

 

Der Mann nervt wie ein guter Gewerkschafter

Der Grund für den Unmut liegt sicher in der Person Claus Weselsky. Sympathisch findet den nämlich niemand. Wenn er mit Schaum im Oberlippenbart die Pressestelle der Bahn als „Propagandaabteilung“ bezeichnet und den Bahn-Vorsitzenden Martin Seiler als „Lügenbaron“, den man „zum Jagen tragen muss“, dann denkt wohl jeder: Mit dem möchte ich morgens nicht am Frühstückstisch sitzen. Der Mann nervt kolossal, sobald er nur den Mund aufmacht. Aber, und das vergessen viele: Der Mann nervt ja vor allem die Bahn kolossal – und damit tut er genau das, was ein guter Gewerkschafter tun muss. Angesichts all der partnerschaftlichen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und der meist vorhersehbaren Kompromisse, die nach durchchoreografierten Streiks und mehr oder weniger erfolgreichen Tarifverhandlungen stets lobend und einvernehmlich der Öffentlichkeit präsentiert werden, mutet ein Gewerkschafts-Chef wie Weselsky hierzulande wie ein Außerirdischer an. Denn Kuschelkurse jeglicher Art lehnt er ab und ihm ist es vollkommen egal, ob ihn die Öffentlichkeit nett findet oder nicht. Das Einzige, was ihn interessiert, sind die Angestellten der Bahn. Und für die möchte er herausholen, was geht. Das honorieren auch die Bahn-Angestellten: Während bei der viel größeren Eisenbahn-Gewerkschaft EVG die Mitgliederzahlen kontinuierlich sinken, verzeichnet die GDL deutliche Zuwächse. Oberleitungsschaden, Weichenstörung, Stellwerkdefekt, Lok kaputt, Klimaanlage kaputt, Verspätung eines vorausfahrenden Zuges und Baustellen über Baustellen: Es ist kein Spaß, als Mitarbeiter Teil des kaputtgesparten Desasters namens Deutsche Bahn zu sein und Tag für Tag nicht zu wissen, wieviel Stress und wie viele Überstunden wieder auf einen zukommen. Land ist hier nicht in Sicht, erst recht nicht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt der Ampel-Koalition: Das Geld, das dadurch fehlt, war nämlich unter anderem für den Schienenausbau eingeplant. Kein Wunder, dass die Zeiten längst vorbei sind, als Jobs bei der Bahn noch hochattraktiv waren. Die Bahn hat mittlerweile ein massives Nachwuchsproblem. Weselsky weiß das genau. Er weiß, dass Mitarbeiter sich all das nur dann antun, wenn sie wenigstens adäquat dafür bezahlt werden und dass die Bahn nur dann als Arbeitgeber in Frage kommt, wenn sie dem Chaos wenigstens verlockende Angebote entgegensetzen kann. Deswegen fordert er spürbar mehr Gehalt, nämlich bei einer Tariflaufzeit von einem Jahr eine Lohnerhöhung von mindestens 555 Euro, eine Erhöhung der Zulagen für Schichtarbeit um 25 Prozent und eine steuerfreie Inflationszahlung von 3000 Euro.

Bahnchef Lutz verdiente 145 Prozent mehr als im Vorjahr

Die Bahn bietet neben einer Inflationsprämie, die sehr nah an den Forderungen der GDL liegt, elf Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von 32 Monaten. Das entspricht einer jährlichen Gehaltserhöhung von 3,7 Prozent. Zum Vergleich: Die Inflation liegt bei 3,8 Prozent, die Lebensmittelpreise haben sich in den vergangenen zwei Jahren um fast 28 Prozent erhöht. Mehr geht aber leider nicht, behauptet die Bahn, deren Chef Richard Lutz im vergangenen Jahr mit 2,24 Millionen Euro – Gehalt plus Bonus – übrigens 145 Prozent mehr verdient hat als im Jahr zuvor. Über die 35-Stunden-Woche, die Kernforderung der GDL, sagt die Bahn: Nicht machbar, denn dafür müsste das Personal aufgestockt werden, was angesichts der aktuellen Lage am Arbeitsmarkt kaum möglich sei. Die GDL hält völlig zu Recht dagegen, dass die 35-Stunden-Woche ja gerade wegen der Lage am Arbeitsmarkt eingeführt werden müsse. Die Bahn müsse als Arbeitgeber bessere Voraussetzungen schaffen als die Mitbewerber, sonst verschärfe sich der Personalmangel noch weiter. Aber darüber will die Bahn nicht einmal reden, Gespräche über eine Arbeitszeitverkürzung lehnt sie rundheraus ab. Das ist schon einigermaßen dreist und das Gegenteil des „Verhandlungswillens“, den sie in der letzten Woche immer wieder betonte, als sie sich überrascht und empört zeigte über den Warnstreik. Dabei war der vollkommen berechtigt angesichts dieser Verweigerungshaltung. Weselsky wird den Bahnreisenden in den nächsten Wochen sicher noch ein paar Mal auf die Nerven gehen und vielleicht auch die eine oder andere vorweihnachtliche Shopping-Tour verderben. Aber eines steht doch fest: Wenn niemand mehr für die Bahn arbeiten will, dann fährt bald überhaupt kein Zug mehr. Dass die GDL dies mit allen Mitteln verhindern will, dafür sollte man ihr dankbar sein.

Von SHZ-Autorin SIMONE SCHNASE

 

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