In einem Offenen Brief an den DB-Vorstand schildert Lokomotivführer Sachar Schoner die Befindlichkeit der Mitarbeiter und fordert die Konzernführung zum Umdenken auf.
Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Bahn AG aus Anlass der aktuellen Tarifverhandlungsrunde 2023
Sehr geehrte Damen und Herren
sehr geehrter Dr. Lutz, sehr geehrte Frau Palla, sehr geehrte Frau Nikutta, sehr geehrte Dr. Gerd tom Markotten, sehr geehrter Herr Huber, sehr geehrter Dr. Holle, sehr geehrter Herr Seiler, mit diesem Schreiben nehme ich Bezug auf die aktuell anstehenden Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GDL.
Ich bin Mitglied der GDL und bin mir genauso wie meine Kolleginnen und Kollegen sehr bewusst darüber, dass unsere Arbeitskampfmaßnahmen in der Öffentlichkeit mitunter auf Kritik stoßen. Sie können sich sicher sein, dass sich in unseren Reihen niemand befindet, der sich an diesen Maßnahmen erfreut oder einen Streik seiner regulären Tätigkeit vorzieht. Daher sollte man sich die Frage stellen, warum wir, die Mitglieder der GDL und Mitarbeiter ihres Unternehmens, so entschlossen und trotz aller öffentlicher Kritik unsere Arbeit zur Durchsetzung unserer Tarifforderungen niederlegen und somit den Bahnbetrieb beeinträchtigen oder sogar gänzlich zum Erliegen bringen wollen.
Nun, diese Frage kann man nicht einfach mit einem einzigen Aspekt beantworten, sondern man muss die Akkumulation an Ursachen, welche zu der vorherrschenden Unzufriedenheit geführt haben, im Einzelnen betrachten.
Große Verantwortung für Menschenleben und Güter
In erster Linie ist die persönliche Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu nennen. Als direktes Personal bei der Deutschen Bahn hat man in nahezu jedem Betätigungsfeld eine überdimensional große Verantwortung. Besonders deutlich wird diese Tatsache am Beispiel von Lokomotivführern, Fahrdienstleitern, Zugbegleitern, Fahrzeug- und Netzinstandhaltern, um nur die bekanntesten zu nennen. Diese arbeiten in Bereichen mit direkter Verantwortung für Menschenleben und hohen finanziellen Werten. Sie arbeiten eigenverantwortlich, was bedeutet, dass sie bei Unregelmäßigkeiten persönlich zur Verantwortung gezogen werden können. Wo in anderen Bereichen der Vorgesetzte einen Mitarbeiter im Schadensfall mit erhobenem Zeigefinger oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen zurechtweist, erhalten diese Eisenbahnergruppen bei falschen Entscheidungen oft auch Post vom Staatsanwalt.
Unregelmäßiger, belastender Schichtdienst
Diese Verantwortung geht in vielen Bereichen einher mit einem sehr belastenden oder gar unregelmäßigem Schichtdienst, ein Dienst und Einsatz für die Eisenbahn – also für die Kunden im Personen- und Güterverkehr – der 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche und an 365 Tagen im Jahr von uns geleistet wird. Und das zu jeder erdenklich unmöglichen Uhrzeit mit Dienstbeginn und Dienstende am Tag oder in der Nacht. Und das mit möglichen Schichtlängen von bis zu 12 und gar 14 Stunden. Getoppt wird diese enorme Schichtbelastung, von einem jahrzehntelang anhaltenden im schlimmer werdenden Personalmangel – verursacht und verantwortet von der Führung dieses Unternehmens! Zusätzlich werden diese belastenden Schichten mehr und mehr in die Länge gezogen oder die schon geringe Freizeitplanung komplett zerstört aufgrund der desaströsen Situation, in die die Eisenbahn von der Führungsetage gebracht wurde.
Kunden und Mitarbeiter leiden unter Bahnchaos
Es leiden ja nicht nur unsere Kunden unter den Verspätungen, Zugausfällen und dem ganzen alltäglichen Bahnchaos. Nein, auch wir Mitarbeiter an der Basis leiden täglich darunter! Vor allem unsere Kolleginnen und Kollegen Zugbegleiter, Bordgastronomen, Service & Sicherheits-Mitarbeiter in den Bahnhöfen bekommen dabei konzentriert den Frust der genervten Kundschaft ab. Wir alle sind dabei die „Bahn“ für den Kunden – nicht die Führung, die das alles verantwortet. Aber auf Wertschätzung braucht man als Angestellter beim DB Konzern nicht zu hoffen, denn alle Leistungen, alles Engagement, jegliche persönliche Initiative werden ja mit dem Auszahlen des Gehalts abgegolten.
Danke! Nicht ohne Grund fordern wir GDL Mitglieder vom Unternehmen eine echte wertschätzende Entlastung und Aufwertung unserer Arbeitsleistung unter diesen erschwerten Bedingungen. Wir brauchen dringend Entlastung durch weniger Wochen-arbeitszeit, mehr Ruhezeiten und weniger Schichten am Stück. Dass Sie in der Öffentlichkeit behaupten, dass die GDL-Mitglieder eine 4-Tage-Woche fordern, ist entweder eine absichtliche Falschdarstellung, oder einfach nur ein erneuter Beweis, dass Sie nicht wissen, was ihn Ihrem Unternehmen los ist. Wir fordern eine 35-Stundenwoche und eine echte 5-Tage-Woche. Also 5 Tage arbeiten und 2 Tage frei. Schichtarbeit bei der Bahn muss sich lohnen. Denn Entlastung durch Home-Office oder geregelte Arbeitszeiten à la „nine to five“ gibt es in den Schichtberufen der Eisenbahn nicht! Unsere Berufe müssen dringend eine echte Entlastung und Aufwertung erfahren! Der Krankenstand ist nicht ohne Grund gestiegen und nicht ohne Grund ist es immer schwerer, genügend nachhaltigen Neuzugang in den Schichtberufen zu bekommen. Ein Teufelskreis, wenn die Berufe nicht entlastet und aufgewertet werden. Ich stehe voll hinter den Forderungen!
Enorme Einkommenserhöhung und maßlose Boni der Vorstände
Vor dem Hintergrund der Inflation seit der letzten Tarifrunde, die Sie, nebenbei bemerkt, als Argument für Ihre Einkommenserhöhung zurate gezogen haben, geraten mehr und mehr Mitarbeiter an ihre finanzielle Belastungsgrenze. Und jetzt muss man sich einmal klarmachen, dass beispielsweise ein Zugbegleiter, der pro Woche gerne auch mal bis zu 60 Stunden leistet, sich darüber Gedanken machen muss, wie er das Benzin bezahlen kann, das er benötigt, um seine Schicht anzutreten. Und genau dieses Benzin benötigt er, da er mit seinem Auto zu seiner Einsatzstelle fahren muss, weil zu der Uhrzeit, zu der er seine Schicht antreten muss, noch kein öffentlicher Personennahverkehr unterwegs ist.
Im gleichen Atemzug vernehmen er und seine Kollegen an der Basis die Nachricht, dass sich der Vorstand und die TOP-Führungskräfte regelmäßig enorme Einkommenserhöhungen und maßlose Boni gönnen. Und das trotz des desaströsen Zustandes der Bahn und einem Gehalt, welches sich an der Konzernspitze sowieso in ganz anderen Sphären bewegt. Und das garniert mit der Botschaft aus dem Jahr 2021, dass die Eisenbahner den Gürtel enger schnallen sollten, weil die DB ja so verschuldet ist. Schulden, die keiner von uns Eisenbahnern zu verantworten hatte, sondern Sie, die sich das Gehalt und die Boni großzügig erhöht haben. Von der Absenkung der Pünktlichkeitsziele ganz zu schweigen, damit trotz schlechterer Leistung weiter die hohen Boni fließen können. An diesem Punkt wird uns Eisenbahnern klar, dass der Fokus der Führung mehr auf sich selbst liegt als bei den Bedürfnissen seiner Belegschaft.
Spätestens jetzt sollte jedem klar werden, dass Ihre Argumentation in den Tarifverhandlungen das Predigen von Wasser bei gleichzeitigem Saufen von Champagner gleichkommt.
Massives Versagen der Konzernführung
Und genau an dieser Stelle kommt dann die Frage auf, welche Leistungen Sie für Ihre Einkommenserhöhung vorweisen können. Ist der Eisenbahnverkehr für den Kunden zuverlässiger geworden? Hat sich durch Ihre Vorgaben die Pünktlichkeit verbessert? Konnte die Sauberkeit in den Zügen oder in den Bahnanlagen auf ein ansehnliches Niveau angehoben werden? Schreibt der Konzern jetzt schwarze Zahlen? Ist das Reisen mit der Bahn günstiger und somit attraktiver geworden? Kann man sich jetzt in den Zügen oder in den Bahnanlagen sicherer fühlen? Haben wir den Personalmangel überwunden? Sind unsere Schichten und Einsatzpläne stabiler oder überhaupt mal entlastet worden? Sind die Aussagen, die von der Konzernspitze kommen ehrlicher geworden? Keine dieser Fragen kann mit einem deutlichen „Ja“, viele aber mit klaren „Nein" beantwortet werden.
Leistungsentzug durch Tarifeinheitsgesetz
Was Sie allerdings erreichen konnten, ist, dass Sie Ihre Mitarbeiter mit der Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes (TEG) gegen ihren Arbeitgeber aufgebracht haben. Mitarbeitern ihres Unternehmens, die sich per grundgesetzlich verankerter Koalitionsfreiheit einer GDL angeschlossen haben, entziehen sie sang- und klanglos tarifvertragliche Leistungen, die uns Mitarbeiter seit Jahren wertschätzen und auch entlasten! Warum ist es Ihnen so wichtig, eine Zweiklassengesellschaft zu etablieren – „gutes Gewerkschaftsmitglied, böses Gewerkschaftsmitglied“? Es schlägt dem Fass dann noch den Boden aus, dass Sie Ihren Mitarbeitern auch noch die Sozialleistungen der DB/GDL-Sozialeinrichtung „FairnessPlan“ entziehen, die Sie selbst finanzieren, damit die Arbeitsfähigkeit und die Gesundheit ihres Personals erhalten, gestärkt und gefördert werden soll.
Zu guter Letzt müssen wir Ihnen zu den sehr erfolgreichen Arbeitgeber-Streikmaßnahmen gratulieren, die zwar von der EVG angekündigt, von Ihnen aber letztendlich umgesetzt wurden. Noch bevor das erste EVG-Mitglied in den Streik treten konnte sind Sie ihm sehr gekonnt zuvorgekommen und haben seinen Arbeitsplatz vorübergehend stillgelegt. Phänomenal! Wir gehen nicht davon aus, dass wir bei GDL-Arbeitskampfmaßnahmen auf eine vergleichbare Unterstützung Ihrerseits treffen werden. Ganz im Gegenteil, erwarten wir selbstverständlich von Ihnen wie gewohnt jede erdenkliche Strategie, einen GDL-Streik erstens zu erschweren und zweitens in der Öffentlichkeit schlecht zu machen. Das sind wir gewohnt, Sie haben uns schließlich entsprechend trainiert.
Inkompetentes Baustellenmanagement
Was sich in dieser Firmenpolitik ebenfalls widerspiegelt, ist Ihre große Gleichgültigkeit sowohl gegenüber den Beschäftigten als auch gegenüber Ihren Kunden. Die Messgrößen, die zum Bewerten der Qualität unserer Arbeit immer wieder herangezogen werden, sind die Pünktlichkeit und die Zuverlässigkeit. Nun, diese haben Sie mit Ihrer wilden und unausgegorenen Baustellenorgie schwer getroffen. Und dabei wäre es doch so einfach gewesen, ein vernünftiges Baustellenmanagement mit angepassten Fahrplänen und ausgedünnten, aber dafür zuverlässigen und pünktlichen Zugfahrten zu organisieren. Man muss doch nun wirklich nicht studiert haben, um zu wissen, dass Fahrwege eine bestimmte Kapazität haben. Und wenn man eben diese Kapazität über ihre Möglichkeiten beansprucht, dann kann der Zugverkehr nicht mehr planmäßig stattfinden, dann fahren Züge verspätet oder sie fallen ganz aus.
Würden Ihnen die Mitarbeiter und die Kunden, sowie das Gewährleisten eines stabilen Zugbetriebes wirklich am Herzen liegen, hätten Sie hier Ihre Hausaufgaben früh genug gemacht und ganz klare Prioritäten gesetzt.
Fehlende Wertschätzung ist Alltag geworden
Das gilt übrigens auch für die Aufrechterhaltung des Betriebs im Hinblick auf eine frühzeitige Personalbeschaffung. An den Bahnsteigen lassen Sie ansagen, dass Züge aufgrund kurzfristiger Krankmeldungen ausfallen. Fehlende Wertschätzung ist so hörbar längst zum Alltag geworden. Sie unternehmen nichts, um die angespannte Personaldecke spürbar zu entspannen. Ja, Sie stellen ein. Aber wie viele gehen denn gleichzeitig? Und gehört nicht auch zur Wahrheit dazu, dass es nicht nur die Altersabgänge sind, die uns verlassen, sondern dass auch entgegen früherer Zeiten viele aktive Eisenbahner aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen kündigen? Wollen Sie die Zeichen der Zeit nicht erkennen? Die Kolleginnen und Kollegen, die in die Betriebe eingespeist werden, decken auf Jahre hinaus gerade einmal den Verlust derjenigen, die sich zur Ruhe setzen oder aus gesundheitlichen Gründen aus den Betrieben ausscheiden. Die logische Folge ist natürlich, dass die Arbeit, die ja erledigt werden muss, auf weniger Mitarbeiter aufgeteilt wird. Daher haben ja etliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr jährliches Leistungssoll schon zur Mitte des Jahres, die meisten von ihnen aber spätestens bis zum Herbst erfüllt. Überbelastung ist Alltag geworden!
Gesamthaft ist also festzuhalten: Sie – der Bahnvorstand – legen seit Jahren die Grundlage dafür, dass der Kesseldruck der Belegschafts-Missstimmung immer mehr ansteigt. Wir haben schon lange den roten Bereich erreicht. Nun fordern wir das, was notwendig ist: Wertschätzung durch einen guten und richtigen Tarifabschluss. Bessere Arbeitsbedingungen durch weniger Wochenarbeitszeit, weniger Tage am Stück, mehr Ruhezeit und natürlich eine ausreichende finanzielle Entlastung! Nehmen Sie also Druck aus dem Kessel und gehen Sie auf unsere Forderungen ein!
Trotz all dieser Widrigkeiten lieben wir unsere Berufe, üben sie mit Hingabe und Herzblut als Eisenbahner aus und nehmen die Steine, die nach uns geworfen werden, unter die Füße. Aber wenn wir uns schon darüber im Klaren sind, dass unser Anspruch auf Wertschätzung von Ihnen nicht wahrgenommen wird, dann möchten wir unser Leben wenigstens unter einigermaßen erträglichen Arbeitsbedingungen und finanzieller Sicherheit verbringen.
Wir fordern Sie mit diesem Schreiben dazu auf, die anstehenden Tarifverhandlungen auch an den Aspekten der Menschlichkeit zu orientieren, die vorgetragenen Argumente anzuerkennen und mit Ihrer Entscheidung die Situation Ihrer Mitarbeiter, die Ihren Platz im Vorstand überhaupt erst finanzieren, maßgeblich zu verbessern. Wir fordern Sie dazu auf, in dieser Tarifrunde keinen Feldzug für Ihr Ego zu sehen, sondern zu einer vernünftigen Lösung zu kommen, mit der wir alle gut leben können. Und wir fordern Sie dazu auf zu akzeptieren, dass es Ihre Mitarbeiter sind, die sich eben selbst ihre Gewerkschaft und deren Tarifverträge aussuchen, und nicht Sie als Arbeitgeber!
Mit freundlichen Grüßen
Sachar Schoner
Lokomotivführer